Radioaktivität: Was bedeutet der Stromausfall in Tschernobyl?

Rund um die Reaktorruine von Tschernobyl ist offenbar der Strom ausgefallen. Dort müssen zwar Brennstäbe gekühlt werden, doch das funktioniere auch ohne Strom, sagen Fachleute.

Auf dem Gelände des ehemaligen ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl ist nach Angaben der Behörden der Strom ausgefallen. Grund dafür sei eine zerstörte Hochspannungsleitung. Es ist der zweite Vorfall an einem der vier ukrainischen Kernkraftwerke, nachdem russische Truppen in der Nacht auf den 4. März das Kraftwerk Saporischschja attackiert und dabei ein Gebäude in Brand geschossen hatten.

In beiden Fällen ist keine Radioaktivität ausgetreten. Dennoch sehen ukrainische Behörden die Lage mit Besorgnis. Per Twitter informierte der staatliche ukrainische Informationsdienst SSSCIP über den Stromausfall. Zu befürchten sei nun, dass die verbrauchten Brennelemente, die in Abklingbecken in der Anlage aufbewahrt werden, nicht mehr ausreichend gekühlt werden könnten. Wegen der anhaltenden Kampfhandlungen um die Hauptstadt Kiew könne die Stromleitung nicht repariert werden.

Internationale Fachleute äußern sich allerdings zurückhaltend, was das Gefahrenpotenzial des Stromausfalls angeht. Zum einen ist in der Anlage nach Auskunft des Netzbetreibers NPS Ukrenergo nun ein Notstromaggregat aktiv, das genügend Diesel habe, um die die Anlage über 48 Stunden mit Elektrizität zu versorgen. Zum anderen sei die Kühlung allein durch das vorhandene Wasser – sogar ohne jeden Strom – gewährleistet. Darauf weist etwa die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in einem Statement auf Twitter hin.

Brennelemente sind bereits abgekühlt

Insofern drohe keine »kurzfristige Notlage«, sagt etwa der Strahlungsexperte Clemens Walther von der Universität Hannover auf »Spiegel.de«. Für den havarierten Reaktor selbst, der von einem Schutzmantel umgeben ist, bestehe ebenfalls keine direkte Gefahr. Dort seien strombetriebene Luftpumpen im Einsatz, die zum Beispiel ein Rosten der Stahlummantelung verhindern. Wenn sie dauerhaft ausfallen, könne sich das als problematisch erweisen, sagt Walther. Ein Nuklearunfall, durch den großflächig Radioaktivität freigesetzt wird, droht auf Grund dieser Tatsache allerdings nicht.

Verbrauchte Brennstäbe müssen im Regelfall nur 5 Jahre im Wasser gekühlt werden, in manchen Fällen bis zu 15 Jahre, danach sind sie so weit erkaltet, dass sie auch im Freien stehen könnten. Die rund 20 000 noch vorhandenen Brennelemente in Tschernobyl sind jedoch mindestens 20 Jahre alt, schreibt etwa die Deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) in einer aktuellen Stellungnahme. Das Kraftwerk hatte nach dem Unglück im Jahr 1986 noch drei weitere Reaktoren in Betrieb, von denen der letzte erst im Jahr 2000 abgeschaltet wurden. Die jüngsten Brennelemente in den aktuellen Abklingbecken stammen aus dieser letzten Phase.

Konkret hatten die ukrainischen Behörden vor einem Szenario gewarnt, in dem die Hitze der Brennstäbe das Wasser verdunsten lassen könnte, wodurch Radioaktivität frei werde. Doch auch das sei nicht mit größeren Gefahren verbunden, heißt es von der GRS. In der Tat würde selbst bei einem teilweisen Verlust des Lagerbeckenwassers die radioaktive Abschirmwirkung nachlassen. Ein Betreten des Lagers durch das Betriebspersonal sei dann nicht mehr ohne Weiteres möglich. Sogar in diesem Fall würde sich jedoch für die Umgebung des Kraftwerkes oder für weiter entfernte Regionen keine sicherheitstechnisch bedenkliche Situation ergeben, schreibt die GRS.

Für andere Kraftwerke ist ein Stromausfall problematischer

Nach der Attacke auf Saporischschja hatten Experten wiederholt vor den Folgen eines Stromausfalls gewarnt. Ein Blackout ist jedoch bei aktiven Kernreaktoren deutlich schwerwiegender als bei dem lange stillgelegten Komplex wie in Tschernobyl. Gelingt es in aktiven Reaktoren nicht, die Kühlung aufrechtzuerhalten, könne es theoretisch wie 2011 im japanischen Unglücksreaktor Fukushima zur Kernschmelze kommen, erklärte unlängst der Nuklearexperte Christoph Pistner vom Darmstädter Öko-Institut gegenüber »Spektrum.de«.

Pistner wies auch auf die Gefahren hin, die sich aus einer Überlastung der Mitarbeiter ergäben. Die psychische Anspannung sei enorm und steige in der jetzigen Situation nur noch weiter an. Gleichzeitig sind die Kraftwerksmitarbeiter ununterbrochen im Einsatz, was zu menschlichen Fehlern führen könne. Das Überwachungspersonal in Tschernobyl sei bislang ebenfalls nicht ausgetauscht worden und ununterbrochen vor Ort.

Aktuell sind 9 der 15 ukrainischen Reaktoren am Netz. Sie liefern einen großen Teil des landesweiten Energiebedarfs. Ob man sie besser vorsorglich abschalten sollte, um das Risiko einer Nuklearkatastrophe zu minimieren, ist umstritten. Experten zufolge verringere sich der Kühlaufwand nur geringfügig, wenn ein Kraftwerk heruntergefahren würde. Insofern bestehe die grundsätzliche Gefahr bei einem andauernden Stromausfall weiter.

Die Bedrohung durch den Stromausfall hätte womöglich noch deutlich größer werden können, wenn das Reaktorgelände in Tschernobyl wie geplant zum zentralen Zwischenlager für den gesamten radioaktiven Abfall auch aus den anderen ukrainischen Atomkraftwerken genutzt worden wäre, sagt Georg Steinhauser, ebenfalls von der Uni Hannover dem »Science Media Center«. Dass dies wegen des Einmarschs der russischen Armee nicht geschehen sei, »stellt sich jetzt als Glücksfall dar«. Eigentlich hätte im März 2022 damit begonnen werden sollen, das ukrainische Inventar an alten Brennelementen dorthin zu verlegen.

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