Warkus’ Welt: Was ist Vernunft?

Ein Mensch kann noch so clever und vorausschauend handeln – das bedeutet noch lange nicht, dass Vernunft im Spiel ist. Unser Kolumnist erklärt den feinen Unterschied zwischen Weisheit und bloßem Scharfsinn.

Vernunft ist schon eine tolle Sache. Dank ihr hat der Mensch viel erreicht: Mit Hilfe mathematischer Modelle können wir weite Teile der beobachtbaren Welt beschreiben; die Technik hat uns auf den Mond geschickt, große Teleskope ins Weltall und Sonden in die Nähe aller Planeten gebracht.

Es ist aber eine Binsenweisheit, dass längst nicht alles auf der Erde vernünftig zugeht. Man kann sich darüber streiten, inwieweit dies der Fall ist – es gibt da alle möglichen Urteile, von der Vorstellung, die Erde sei ein Höllenort, bis zu jener, es laufe bis auf ein paar lösbare Probleme recht gut. Dass es aber gewisse »Vernunftdefizite« gibt, streitet niemand ab. Ein Grund für diese Defizite ist, dass man verschiedene Arten von Vernunft, von Rationalität, unterscheiden kann – von denen manche in sich geradezu unvernünftig sein können.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Ich möchte dies an zwei Beispielen besprechen. Stellen Sie sich zunächst jemanden vor – nennen wir ihn Axel –, der sein ganzes Leben in den Dienst einer einzigen Aufgabe gestellt hat: nachzuweisen, dass die Erde hohl ist, mit einer nur vier Kilometer dicken Schale. Dazu möchte er mit einem selbstentwickelten Gerät ein hinreichend tiefes Loch bohren. Den Bohrgeräten der Industrie vertraut er nicht.

Axel wird promovierter Naturwissenschaftler, eignet sich sämtliches Know-how an, das man zum Bohren braucht, kauft ein Grundstück, errichtet einen Bohrturm und zieht sein Projekt effizient und zielstrebig durch, ohne größere Fehler zu machen oder Ressourcen zu verschwenden. Am Ende bohrt er ein vier Kilometer tiefes Loch und stellt fest, dass die Erdkruste wohl dicker sein muss als vier Kilometer. Sein Glaube an die Hohlwelt bleibt unerschütterlich. Die Menschheit hat in keinerlei Hinsicht irgendeinen Fortschritt gemacht.

Axel hat in dem Beispiel vorbildlich in einer Weise gehandelt, die man zweckrational nennt: Er hat Vernunft eingesetzt, um sein Handeln zum Erreichen eines bestimmten Zwecks optimal zu gestalten. Aber rational, vernünftig, war dieses Handeln eben nur im Hinblick auf diesen Zweck – und der war völlig irrational. Seine Verwirklichung war sinn- und folgenlos.

Ein zweites Beispiel. Denken Sie an einen anderen Menschen – nennen wir ihn Jonas –, der hochintelligent ist und zudem ungeheuer knickerig und geschäftstüchtig. Buchstäblich alles, was er tut, ist maximal sparsam oder bringt den maximalen Ertrag. Anders als Axel hat Jonas im Leben kein besonderes Ziel, er strengt sich auch nicht wirklich in irgendeine Richtung an. Seine Begabung und sein Charakter sorgen trotzdem dafür, dass er dem Geld auf dem Konto beim Wachsen geradezu zuschauen kann. Mit 40 Jahren ist er so reich, dass er in Rente gehen könnte. Aber er hat es sich mit allen Menschen in seinem Leben durch seinen Geiz verscherzt und weiß auch gar nicht, was er außer Geldverdienen tun sollte. In gewisser Weise steht er vor dem Nichts.

Vernunft geht über das Lösen bestimmter Aufgaben hinaus

Von Zweckrationalität zu sprechen, könnte hier etwas merkwürdig klingen, da Jonas gerade kein oberstes Ziel verfolgte, zumindest nicht absichtlich; aber mit einem etwas altmodischen Wort könnte man sagen, dass er in höchstem Maße klug oder scharfsinnig gehandelt hat, bloß eben letztlich unvernünftig.

Dass es einen Unterschied zwischen Vernunft und bloßem Scharfsinn oder der Fähigkeit zum Erreichen von Zwecken gibt, schlägt sich schon umgangssprachlich nieder in Sätzen wie »Der ist nicht dumm, er ist einfach nur bescheuert«.

Philosophisch gibt es eine große Tradition, zwischen Vernunft (oder Weisheit) und sozusagen regional beschränkter Schläue zu unterscheiden. Immanuel Kant differenzierte beispielsweise zwischen Vernunft und »Vernünfteln«; aus der Antike kennt man die Abwertung der Sophisten, denen unterstellt wurde, philosophisches Denken nur als Mittel zu beliebigen Zwecken und nicht als Weg zur Erkenntnis und zur Tugend zu lehren. Daran schließen sich die unterschiedlichsten Diskussionen an, aber eines wird daraus auf jeden Fall klar: Vernunft in einem ernst zu nehmenden Sinn muss etwas sein, was mehr ist als bloß die Fähigkeit zum Anstreben bestimmter Zwecke beziehungsweise zum Lösen bestimmter Aufgaben.

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